Am 24. September fahren wir mit dem Zug von Wien nach Lienz. Es ist der „Tag der Flüsse“ – das passt, starten wir am nächsten Tag doch eine Wanderung entlang der Isel, des längsten frei fließenden Gletscherflusses der Ostalpen.
Wandern am blaugrünen Gletscherfluss
Am 24. September fahren wir mit dem Zug von Wien nach Lienz. Es ist der „Tag der Flüsse“ – das passt, starten wir am nächsten Tag doch eine Wanderung entlang der Isel, des längsten frei fließenden Gletscherflusses der Ostalpen.
Nach dem Frühstück füllen wir unsere Wasserflaschen und kaufen Mittagsproviant für zwei Tage. Wir schultern unsere Rucksäcke und marschieren vom Bahnhof zur Mündung der Isel in die Drau. Wobei man es eigentlich umgekehrt sagen müsste, denn die türkisfarben strahlende Isel wirkt weit mächtiger als die graue Drau.
Hier beginnt der rund 75 Kilometer lange Iseltrail, auf dem wir den wilden Gletscherfluss und seinen wechselnden Charakter sowie unseren eigenen Fluss des Bewegens und Verweilens erleben werden. Unser Leitstern ist ein kleiner gelber Pfeil mit dem Iseltrail-Logo, denn nicht immer kann man direkt am Fluss entlang wandern.
Ab dem Stadtrand sind wir meist in der Natur unterwegs, auch wenn wir den Straßenverkehr jenseits des Flusses leise brummen hören. Es gibt Buchten, Schotterbänke, Sandstrände, Tümpel und Auwälder, auf den Schotterinseln wächst die geschützte Deutsche Tamariske, die die Dynamik des Gletscherflusses zum Überleben braucht. Dort brütet im Frühjahr der Flussuferläufer, weshalb man die Inseln nicht betreten sollte. Im Farbenspiel von Sonne und Schatten auf dem Wasser erkennen wir das Iseltrail-Logo, das von Blau nach Grün verläuft. Die besondere Farbe entsteht durch die „Gletschermilch“, den Gletscherschliff, der im Wasser schwebt.
Dass der längste noch frei fließende Gletscherfluss der Alpen sich zwischen Lienz und Matrei so ausbreiten darf, ist dem Wasserbauer Alfred Thenius zu verdanken: Als die Isel nach den verheerenden Hochwasserkatastrophen 1965 und 1966 reguliert wurde, plante er große Aufweitungen ein, an denen sich der Fluss bei Hochwasser ausbreiten und Steine, Sand und Schwemmholz ablagern kann. 2018 wurde die Isel – nach langem Drängen der EU und Naturschutzorganisationen – vom Land Tirol als Natura-2000-Schutzgebiet ausgewiesen.
Nach 16 Kilometern erreichen wir das Ziel der ersten Tagesetappe, die Gemeinde St. Johann im Walde. Leider gibt es hier keine Möglichkeit für eine einmalige Übernachtung. Wer noch bei Kräften ist, kann rund fünf Kilometer bis Huben weitergehen. Wir nehmen lieber den Bus, denn unsere Füße und Schultern müssen sich erst an den schweren Rucksack gewöhnen und wir lechzen nach Kaffee.
Am zweiten Tag geht es weiter Richtung Matrei. Unter strahlend blauem Himmel folgen wir dem linken Ufer und beobachten, wie sich der Fluss mit jedem Kilometer verändert. Er wird schmäler, steiler und wilder, die großen Steine im Flussbett lassen das türkisfarbene Wasser weiß aufschäumen.
Im Auwald entdecken wir eine lange Betonmauer, die weit ins Land hineinragt – Buhnen, die das Ufer vor Zerstörung schützen. Von einer Aussichtsplattform sehen wir die Katarakte von Feld, die erste größere Gefällestufe, die sich mit lautem Wasserrauschen und rumpelndem Geröll bemerkbar macht. Nun müssen wir ein Stück steil bergauf gehen und oberhalb der Isel weiterwandern. Noch vor zwei Jahren stand hier Wald, der jedoch dem Borkenkäfer zum Opfer gefallen ist. Beim Abstieg wird es wieder schattiger. An schönen alten Bauernhäusern und einer Weide mit neugierigen Ziegen vorbei gelangen wir nach Matrei, wo wir übernachten werden.
Ausgeruht und mit Tagesproviant versorgt starten wir in die dritte Tagesetappe: von der Straße Richtung Virgental beim Trafohaus links, ein Stück an der Isel entlang, bei den vier hölzernen Bildstöcken rechts hinauf durch den Weiler Ganz. Wir gehen durch Bauerndörfer und Wälder, über Wiesen und Bächlein, passieren einen Fischteich, treffen auf Schafe und Kühe. Die Isel fließt teils weit unterhalb des Wanderweges, zwischen den Ortschaften Bobojach und Welzelach sogar durch eine tiefe Klamm. Damit man einen Blick in diese unzugängliche Wildnis werfen kann, wurde kürzlich eine Hängebrücke über die Schlucht gebaut.
Kurz vor Prägraten bewundern wir auf einer großen Schotterfläche die Vielfalt der Steine, die die Isel aus dem Gebirge mitgebracht hat. Am Ufer erzählt eine große, etwas ausgebleichte Tafel, dass die Isel 1998 zum „Flussheiligtum“ ernannt wurde. Trotzdem wurden zehn Jahre später Pläne gewälzt, einen großen Teil des Wassers zu einem Kraftwerk am Talausgang abzuleiten. Nur der zähe Widerstand der Bevölkerung und die Ausweisung der Isel als Natura-2000-Gebiet stoppten das Projekt. Wir gehen hinauf nach Prägraten und fahren mit dem Bus zu unserer Unterkunft in Hinterbichl.
Bis Hinterbichl ist der Iseltrail auch für Menschen geeignet, die keine alpinen Wanderungen gewöhnt sind. Die letzten beiden Etappen erfordern jedoch stabile Wanderschuhe, warme Kleidung und einen Hüttenschlafsack. Zunächst geht es steil hinauf Richtung Gletscher, vorbei am Wasserschaupfad Umbalfälle. Von Aussichtsstegen blicken wir in das tosende Wasser und die tiefen Schluchten – man kann sich gar nicht vorstellen, dass hier Insekten wie die Gletscherbachzuckmücke oder Vögel wie die Wasseramsel leben können.
Nach den Wasserfällen gehen wir über der Baumgrenze auf einem schmalen Pfad an Alpenblumen und Ribiseln vorbei zur Clarahütte des Deutschen Alpenvereins, die sich in den Hang hineinduckt. Die Hüttenwirtin Karin serviert uns Kaffee und Kuchen und gibt uns Tipps für den weiteren Weg: Bis zur Quelle der Isel, dem Umbalkees, geht man mittlerweile zirka zwei Stunden, sagt sie, denn der Gletscher hat sich aufgrund der Klimaerwärmung stark zurückgezogen. Den Weg von Hinterbichl bis zur Quelle der Isel und zurück schaffen nur sehr trainierte Bergsteiger, deshalb wird eine Übernachtung auf der Clarahütte empfohlen. Je nach Tageslänge, Kondition und Wetter kann man noch am Nachmittag zum Umbalkees und zur Hütte retour gehen oder man startet am nächsten Morgen und steigt anschließend nach Hinterbichl ab.
Auf dem Weg Richtung Gletscher, auf mehr als 2.000 Metern Seehöhe, wird die Isel ein junges wildes Springinkerl, das weiß schäumend und lärmend über die Steine springt. Vor dem Gletscher hat sich ein flacher See gebildet. Dahinter hilft ein Drahtseil, die vom Gletscher glatt geschliffenen Felsplatten zu überwinden, um zum gar nicht ewigen Eis zu gelangen. Es ist Ende September, die Sonne sorgt für laue 25 Grad und man kann förmlich zuschauen, wie es davonfließt. Am Ziel steht eine Pyramide aus Stahl und Steinen für ein „Gipfel-Foto“. Jetzt sollte man daran denken, wie lang der Weg zurück zur Clarahütte ist, damit man rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit dort ist.
Nach einer ruhigen Nacht unter einem überwältigenden Sternenhimmel und einem reichhaltigen Frühstück wird es Zeit, den Heimweg anzutreten. Zuerst flott ausschreitend über Wiesen und an Wasserfällen vorbei bis Hinterbichl, dann bringt uns der Bus zurück nach Lienz. Isel, wir kommen wieder!
von Sonja Bettel